Willkommen im Zeitalter des posthumanen Marketings!

v.l.n.r.: Martina Kaiser (NATIVES GmbH & Co. KG), Nils Hensdiek (Hilti Deutschland AG), Dirk Engel (Referent), Ingo Sander (BVM Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e.V.), Claudia Greischel (BVM Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e.V.), Marie Stein (Artgerecht Werbeagentur GmbH) und Stefanie Mork (Artgerecht Werbeagentur GmbH) BN: Sarah Jonek
25. Juni 2024
NATIVES GmbH & Co. KG (Ravensberger Str. 12a, 33602 Bielefeld)

Willkommen im Zeitalter des posthumanen Marketings

Von der Zielgruppe zum Individuum

(Bielefeld, 25. Juni 2024) Bei sommerlichen Temperaturen begrüßte MC-Programmplaner Nils Hensdiek die zahlreichen Gäste bei Natives in Bielefeld. Bei der Gemeinschaftsveranstaltung mit der Regionalgruppe Bielefeld, Osnabrück, Münster des BVM stand ein spannendes Thema auf dem Programm, das „im Grenzbereich zwischen Marktforschung und Marketing liegt“, wie Ingo Sander, regionaler Ansprechpartner vom Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher treffend feststellte. Zu Gast war Dirk Engel, unabhängiger Experte für Mediennutzung und Marketing-Kommunikation, der als Markt- und Medienforscher führende Medienunternehmen und Werbevermarkter berät. Seit über zwei Jahrzehnten erforscht der Autor verschiedener Fachpublikationen die digitale Medienentwicklung.

 

Eine Entwicklung, die mehr als rasant ist. „Das Verfallsdatum dieser Veranstaltung ist heute“, sagt Dirk Engel mit Blick auf KI, Big Data, Metaverse und Co. Deshalb geht sein Vortrag bewusst in Richtung Science Fiction, denn er nimmt das Publikum mit auf die Reise in die Zukunft und wagt es, ein Szenario zu entwerfen, in dem es künftig keine Zielgruppen mehr geben wird. „Der Wandel kommt, ob wir wollen oder nicht“, ist der selbstständige Marktforscher überzeugt. In Bezug auf KI habe es vor nicht allzu langer Zeit geheißen, dass Maschinen redundante Aufgaben, die nicht sonderlich komplex sind, übernehmen werden. Dabei sei nun mit ChatGPT das Gegenteil eingetreten. Der Textgenerator übernimmt kreative Aufgaben, wie das Schreiben von Texten oder Codes, während andere KIs ebenfalls binnen Sekunden Fotos und Filme erstellen. „Dabei neigen wir dazu, die KI zu vermenschlichen. Wir formulieren unseren Prompt höflich oder äußern unsere Unzufriedenheit.“

Zu der Prognose, wie zukünftiger Wandel aussehen könnte, gehört die Frage, womit sich Menschen in der Zukunft beschäftigen werden. Sicherlich wird es einige universelle Bedürfnisse geben, die stabil bleiben, zum Beispiel geliebt und/oder gewertschätzt zu werden. Menschliches Verhalten hängt wiederum von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und technischen Entwicklungen ab. In puncto gesellschaftlicher Wandel stellt Dirk Engel fest, dass der Trend bereits seit vielen Jahren in Richtung Individualisierung geht. Kirchen, Gewerkschaften und die großen Parteien verlieren Mitglieder. Auch Familie habe sich verändert, was früher von Ehe und Elternschaft geprägt war, sieht heute zum Beispiel in Anbetracht der vielen Patchwork-Familien ganz anders aus. Ein Aufbrechen von klaren Mustern und Hierarchien ist zu konstatieren, was Marktforscher und Marketeers zunehmend vor Probleme stellt, demographischen Merkmale abzufragen und einer idealtypischen Zielgruppen zuzuordnen.

In Sachen technologischer Entwicklung sieht der versierte Marktforscher bei ChatGPT und Co. noch einige „Kinderkrankheiten“, die seiner Meinung nach aber verschwinden werden. „Noch vor einigen Jahren hätte man nicht geglaubt, dass eine KI den Schachweltmeister besiegen kann. Die Entwicklung schreitet voran, auch wenn wir manchmal das Gefühl haben, das dies langsamer geschieht als zuvor gedacht.“

 

Die Atomisierung von Zielgruppen

Aufgrund der beschriebenen Entwicklung, die immer weiter auf eine Individualisierung zusteuert, geht Dirk Engel davon aus, dass Zielgruppen – ohnehin eine paradigmatische Kategorie und keine echten Menschen – verschwinden werden. Damit wird auch das Zielgruppen-Targeting obsolet. „Werbung könnte zukünftig wirklich im 1:1 personalisiert werden.“ Das Marketing steht vor der Herausforderung, individuelle Bedürfnisse zu erkennen und zu adressieren. Das könnte möglicherweise über Sensoren erfolgen, die anhand der Stimmlage, Tonhöhe, Betonung, Lautstärke herausfinden, was der Einzelne gerade braucht. Ist er erkältet oder gerade verärgert und folglich nicht in Kauflaune, werden beispielsweise Halstabletten angeboten oder lieber gar keine Werbung angezeigt, weil der Zeitpunkt gerade ungünstig ist. Ein weiteres Szenario: Mittels Nanotechnologie könnten Daten über unseren Stoffwechsel o. ä. gesammelt und uns eine entsprechende Medikation angezeigt werden. „Die Technik ist in der Lage, Individualität zu erfassen  und Produktwerbung zu personalisieren“, so der Marktforscher.

 

Welche Rolle spielen Medien?

Nach der These von der Atomisierung der Zielgruppen spricht Dirk Engel über das scheinbare Verschwinden der Medien. Schon jetzt ist bei der Mediennutzung eine Emanzipation von Zeit und Raum festzustellen. Abgesehen von Live-Spielen beim Fußball o. ä. muss mittlerweile niemand mehr zu einer bestimmten Zeit vor dem heimischen Fernseher sitzen. Die meisten Inhalte sind (fast) jederzeit und an jedem Ort verfügbar. Zudem vereint das Smartphone schon jetzt viele technischen Kompetenten, so dass eine Vielzahl elektronischer Geräte in absehbarer Zeit überflüssig werden. Musste sich der Mensch zunächst an die Technik anpassen – diese Kulturtechnik erlernen – passt sich die Technik zunehmend dem Menschen an. „Mit natürlicher Sprache und Gesten werden wir navigieren. Für ein Rezept, das ich kochen möchte, steht mir ein Avatar in der Küche zur Seite und erklärt mir, wie es geht.“ Medien werden bald nicht mehr als solche wahrgenommen. Die reale verschmilzt mit der digitalen Welt, die eigentliche Idee des Metaverse. Auch Bio- oder Neuro-Feedback könnte an Bedeutung gewinnen.

 

Persönliche Assistenzsysteme

Die Maschinen werden immer smarter. Bestes Beispiel ist der Kühlschrank, der selbstständig Milch nachordert, wenn die Vorräte dem Ende zugehen. In einem Zukunftsszenario wäre es möglich, dass jeder von uns mit persönlichen Assistenzsystemen arbeitet, die von Menschen definierte Aufgaben übernimmt. Zum Beispiel sagen wir den non-humanen Agenten, welche Werbung wir angezeigt bekommen wollen. Der Assistent lässt unerwünschte Werbung nicht zu. Und weil die Zusendungen von Reklame auch immer weiter automatisiert wird, ist es möglich, dass künftig Maschinen  auch im privaten Bereich miteinander kommunizieren. Für das Marketing würde das bedeuten, dass die persönlichen Assistenzsysteme adressiert und überzeugt werden müssen, dem Menschen Werbung anzuzeigen. Bereits heute wissen wahrscheinlich die wenigsten Marketeers, wie die Algorithmen funktionieren, die einer scheinbar passgenau definierten Zielgruppe anzeigen, welches Produkt sie interessieren könnte.

Bei der Einführung eines neuen Produkts, beispielsweise ein Bier, sind vorab Marktforscher und Marketingexperten beschäftigt, den potenziellen Markt zu erforschen und Kampagnen aufzusetzen. Mit der Technik der Zukunft könnten diese Zwischenschritte hinfällig werden. „Cut out the Middleman“, nennt Dirk Engel das. Eine Sensorik erkennt die Bedürfnisse, in diesem Falle Durst, und bestellt direkt bei der Brauerei Bier, das mit einer Drohne – oder was die Zukunft für uns bereithält – schnellstmöglich geliefert wird. Ohne Marktforschung, ohne Marketing und ohne Medien. Deshalb plädiert Dirk Engel dafür, dass Marktforscher und Marketeers nicht mehr den Konsumenten in den Fokus stellen, sondern sich verstärkt um Entscheidungen kümmern – wer auch immer sie trifft: Mensch oder/und Maschine. Der Vortrag lieferte reichlich Diskussionsstoff, der beim anschließenden Stay-together ausführlich besprochen wurde.

Text: Eike Birck

Fotos: Sarah Jonek

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